The Lions of Rojava


Interview mit Christian Haller„Die Kurden nannten mich Held“: Deutscher zog in den blutigen Kampf gegen den IS

Für den Kampf gegen den Islamischen Staat hat Christian Haller alles aufgegeben: Seinen Job, seine Beziehung, die sichere Heimat. Sieben Monate lang kämpfte er in Syrien einen blutigen Krieg gegen den Terror. Im Interview mit FOCUS Online schildert er seine Erfahrungen.

Was für andere der schlimmste Alptraum wäre, wurde für Christian Haller zur selbst gewählten Realität: Von November 2014 bis Juli 2015 kämpfte er in der nordsyrischen Provinz um al-Hasaka an der Seite der Kurden gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Freiwillig.

Damit gehört Haller zu einer Minderheit: Zwar haben sich schon tausende Europäer dem IS in Syrien und im Irak angeschlossen, aber die Zahl der ausländischen Kämpfer auf der Gegenseite schätzen Experten auf wenige Hundert. Die Beteiligung an den Kämpfen ist nicht nur eine rechtliche Grauzone, sondern auch lebensgefährlich.

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dpa-GrafikDie von den Kurden kontrollierten Gebiete im Irak und den Nachbarstaaten

Was bewegt einen ganz normalen Mann aus Deutschland dazu, in den blutigen Kampf im Grenzgebiet zwischen Syrien, dem Irak und der Türkei zu ziehen?

Zur Person: Christian Haller

  • Der Name “Christian Haller” ist ein Deckname: So nennt er sich, um seine Familie zu schützen.
  • Er ist 1985 in einem kleinen Dorf in der Eifel geboren.
  • Im Sommer 2014 beschließt er, nach Syrien zu reisen und mit der kurdischen Armee gegen den Islamischen Staat zu kämpfen.
  • Seit Sommer 2015 ist er wieder zurück in Deutschland.
  • Seine Erlebnisse schildert er in dem Buch „Sie nannten mich Held“, es erschien am 2. Dezember im riva Verlag.

FOCUS Online: Herr Haller, die Entscheidung nach Syrien zu gehen, war riskant. Gab es einen Moment, in dem Ihnen diese Gefahr besonders bewusst geworden ist?

Christian Haller: Es gab zum Beispiel eine Nacht, in der wir etwa eine Stunde lang unter Beschuss standen. Wir wussten schon Tage vorher, dass der Angriff kommen würde, aber wenn es zum Feindkontakt kommt, ist nichts so, wie man es sich vorstellt. Man kann sich darauf nicht vorbereiten.

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Christian HallerIn solchen Sandbunkern schützen sich die Kämpfer vor Angriffen an der Front

Alles, was man weiß oder glaubt zu wissen, ordnet sich dem Willen zu überleben unter. Es fühlt sich an, als würde man auf Autopilot schalten. Als würde irgendetwas die Kontrolle über den Körper übernehmen. Man denkt nicht mehr, man handelt. Trotzdem wusste ich in diesem Moment: Jeder Fehler ist tödlich. Tödlich für mich und tödlich für meine Jungs. Das war kein Training mehr.

FOCUS Online: Wie ist es ausgegangen?

Haller: Unsere Kämpfer haben alle überlebt. Ich habe eine Zigarette geraucht und mir einen Tee gemacht. Die Kurden waren gut drauf und haben Guerillalieder gesungen – so war es immer, wenn wir erfolgreich waren. Aus europäischer Sicht mag das verwunderlich sein, aber ich habe mich oft von ihrer guten Laune anstecken lassen. Ein Leben in Angst zu führen, hilft ja auch nicht.

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Christian HallerHaller: “Das Wohnzimmer war nur mit dem Nötigsten ausgestattet”

“Die Stimmung kann binnen fünf Minuten umschlagen”

FOCUS Online: Also kann es auch an vorderster Front so etwas wie Normalität geben? Wie kann man sich einen typischen Tag dort vorstellen?

Haller: Kein Tag war wie der andere. Es gab ruhige Tage, an denen wir gewartet haben und Wachschichten gemacht haben, Hausarbeit erledigt, gekocht. Manchmal haben wir Politiker zu Meetings begleitet und Personenschutz geleistet.

Wenn wir in der Nähe einer sicheren Stadt waren, konnte man auch mal in die Stadt fahren und dort ins Internetcafé oder ein Eis essen gehen.

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Aber die Stimmung kann auch an ruhigen Tagen binnen fünf Minuten umschlagen und dann muss man sich anziehen und es geht raus an die Front.

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FOCUS Online: Sie hatten in Deutschland ein geregeltes Leben mit einer festen Freundin, einem Haus und einem sicheren Job als Veranstaltungstechniker. Warum wollten Sie nach Syrien?

Haller: Ich habe einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Eine ganze Weile habe ich die Medienberichte zum Islamischen Staat verfolgt und es hat mich wütend gemacht, dass die Politik so wenig gegen diese Terroristen getan hat.

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Christian Haller“Bereit zu kämpfen”: Haller in voller Montur

Mir gefiel schon immer das Bild vom Ritter in glänzender Rüstung, der für die Gerechtigkeit kämpft. Als Kind habe ich gerne solche Geschichten gelesen.

FOCUS Online: Gab es einen Schlüsselmoment für Ihre Entscheidung, nach Syrien zu gehen?

Haller: Ich habe eine Reportage über Motorradclubs aus Holland und aus Deutschland gesehen, die gegen den IS kämpfen. Ich saß mit meiner Freundin auf der Couch und habe zu ihr gesagt: „Das könnte ich auch machen!“ Sie fand das sogar gut, dass es Leute gibt, die die Kämpfer unterstützen. Bei mir hat sie das aber nicht ernst genommen – und als ich es dann wirklich gemacht habe, fand sie es auch nicht mehr so toll.

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Der erste Kontakt kam über Facebook zustande

FOCUS Online: Wie sind Sie nach Syrien gekommen?

Haller: Ich habe mich über Facebook bei einer Organisation gemeldet, die ausländische Kämpfer über den Irak nach Syrien schleust. Ein Kontaktmann hat mir den Ablauf erklärt und alles in die Wege geleitet.

Mitte Oktober kündigte ich meinen Job und kaufte mir ein Flugticket in den Irak. Von meinem letzten Gehalt kaufte ich mir meine Ausrüstung: Einen Rucksack, Knie- und Ellbogenschoner, warme Unterwäsche und Handschuhe.

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Anfang November ging es los. Ich bekam im Nordirak ein Touristenvisum für 15 Tage. Vom Flughafen in Sulaimaniya ging es weiter mit dem Taxi in ein Transitcamp am Fuß der Kandil-Berge. Dort bekam ich auch meinen Kampfnamen „Agit“, was so viel wie Held bedeutet. Dann ging es mit einem Boot über den Tigris nach Syrien.

“Die Guten sind die, die keine Unschuldigen töten”

FOCUS Online: Gerade ist Ihr Buch „Sie nannten mich Held“ erschienen, in dem Sie über Ihre Erfahrungen in Syrien berichten. Darin schreiben Sie, Sie hätten herausfinden wollen, wer „die Guten und die Bösen“ in diesem Konflikt sind. Können Sie diese Frage jetzt beantworten?

Haller: Subjektiv kann ich sagen: Natürlich stehe ich immer auf der Seite der Guten. Aber das würden die IS-Kämpfer auch von sich behaupten. Ich glaube, objektiv betrachtet sind die Guten die, die keine Unschuldigen töten.

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FOCUS Online: In dem Buch gibt es eine Stelle, an der Sie darüber nachdenken, wie ähnlich sich die einzelnen Kämpfer auf beiden Seiten der Front mitunter sein könnten. Sie haben in der beschrieben Situation beim Abtransportieren der Leichen bemerkt, dass einer der IS-Kämpfer das gleiche Aftershave benutzte wie Sie …

Haller: Ja, dieser Geruch hat mich in dem Moment aus der Bahn geworfen. Ich dachte, vielleicht hatte er sogar eine ähnliche Lebensgeschichte wie ich. Nur hatte er sich irgendwann aus irgendeinem Grund für die andere Seite entschieden. Für die falsche Seite. Ich habe mich gefragt, ob er dasselbe von mir denken würde, wenn er mich getötet hätte.

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Christian HallerAuch Frauen kämpfen gegen den IS: Haller mit einigen YPJ-Soldatinnen

FOCUS Online: Wie haben Sie ihre Gegner ansonsten erlebt?

Haller: Der IS sucht gezielt nach Schwachen und Ziellosen und rekrutiert diese Leute über das Internet: Pädophile, Geisteskranke, Soziopathen.

“Die Milizen sind sehr tolerant”

FOCUS Online: Und die Opposition, die Kurden, mit denen Sie gekämpft haben?

Haller: Die Kurden vereinen alle unter sich, um den IS effizient bekämpfen zu können. Ich lehne beispielsweise Religion generell ab und bin kapitalistisch geprägt – anders als die Kurden. Natürlich wurde das abends am Lagerfeuer diskutiert, aber sie haben es akzeptiert. Die Milizen sind sehr tolerant.

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Christian HallerHaller und einige Kameraden bei Tel Hansir im Frühling

FOCUS Online: Wie waren die ausländischen Kämpfer, die Sie kennen gelernt haben?

Haller: Viele fand ich persönlich unsympathisch oder blöd. Es sind auch einige Chaoten und viele Selbstdarsteller dabei. Aber sie sind alle aus den richtigen Gründen da und wir hatten einen gemeinsamen Feind, den IS.

 

FOCUS Online: Sie waren in Deutschland nicht bei der Bundeswehr. Gibt es in Syrien eine militärische Grundausbildung für die Anti-IS-Kämpfer?

Haller: Zu den Zeiten als ich dort war, gab es das noch nicht – inzwischen ist das anders. Jetzt gehen die neuen Kämpfer für zwei oder drei Wochen in die „Akademia“, um zu lernen und werden dort getestet. Wer nichts drauf hat, kommt auch nicht an die Front.

Keine Kampfausbildung für Neulinge

FOCUS Online: Wenn es keine Ausbildung gab, woher wussten Sie dann, wie man mit einer Waffe umgeht?

Haller: Ich war schon immer ein guter Schütze, ich war im Schützenverein und war sogar mal Kreismeister.

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Christian HallerHaller: “In unserer Basis haben wir uns ein provisiorisches »Gym« eingerichtet”

FOCUS Online: Also hatten Sie schon mit Waffen zu tun…

Haller: Ja, aber ich war nie ein Waffen- oder Militärfreak. Bevor ich nach Syrien geflogen bin, habe ich mir bei Youtube angeschaut, wie man eine Kalaschnikow und ein G3-Gewehr auseinandernimmt und zusammenbaut. Und vor Ort gab es eine rudimentäre Waffenausbildung und ein Probeschießen. Ich habe auch viel von meinen Kameraden gelernt. Da waren zwei Briten und ein Amerikaner, die mir viel beigebracht haben und ein kurdischer Scharfschütze.

Einer der Soldaten hat mit mir in einem kleinen Dorf direkt an der Front den Umgang mit einem DSchK-Geschütz und einem Dragunov-Scharfschützengewehr gezeigt. Wir haben auf dem Dach einer Schule geübt und auf einen Torso aus dem Biologie-Klassenzimmer geschossen.

Nach einer Stunde Training war ich fertig ausgebildet. Ich lernte noch eine Regel: Nimm niemals Gefangene, auch wenn sich ein IS-Kämpfer ergibt – erschieß ihn, es könnte ein Falle sein.

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FOCUS Online: Haben Sie manchmal daran gezweifelt, das Richtige zu tun?

Haller: Ich hatte nie Zweifel, das Richtige zu tun, aber Zweifel, ob es etwas bringt. Andererseits wollte ich nicht die Welt retten – ein Leben würde schon reichen. Das Wenige, was ein Mensch allein bewegen kann, ist auch ein Beitrag.

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